System von Chiffren – Jochen Senger in der Galerie Thea Fischer-Reinhardt

Der Tagesspiegel, Mai 1989
Dr. Renate Franke

Wer dem Maler Jochen Senger beim Erzählen zuhört, wird bald sein phänomenales Bildgedächtnis bewundern: die alte Schule in Lankwitz, sentimentale Stimmung in der Kneipe bei Madrid, das raschelnde Sommerkleid vom Vorjahr – er hat alles im Kopf. Dort werden bewußt Gesehenes und intuitiv Erfaßtes offenbar gespeichert – ein unerforschliches System hält die zu Chiffren verschlüsselten Vorstellungen abrufbereit.

Bei der Malarbeit nutzt der Künstler den fabelhaften Fundus bedeutungsbeladener Zeichen zur Manifestation von Erinnerungen und Impressionen. Sind erst mal ein paar Zeichen auf der Leinwand, "entwickelt" sich das Bild von selbst. Bemerkenswert ist allerdings, daß mit zunehmender Seherfahrung die Niederschrift konzentrierter wird: knappe grafische Effekte und komprimierte malerische Reize reichen aus, um Botschaften aus dem Unterbewußtsein zu fixieren. Thea Fischer-Reinhardt zeigt jetzt Bilder der letzten Jahre, die diesen Berliner Vertreter der Arte Cifra auf dem Wege zu immer stärkerer Reduzierung zeigen. Angefangen hat Jochen Senger als Landschafter. Andalusien wurde zu seiner zweiten Heimat.; man spürt die starken Strukturen und die gebrochenen Farben dieser Gegend noch heute in seinen Bildern. Die großformatigen, oft zweigeteilten Arbeiten – Tempera auf Leinwand – sind meistens ganz auf strenge Schwarz–Weiß-Wirkung gestellt, ohne daß raffinierte Peinture oder differenziert changierende Valeurs dabei zu kurz kommen. Abgrenzungen, Überschneidungen, Berührungen und die bedachte Gegenüberstellung von dichten Flächen und grafisch gelockertem Lineament spielen in Sengers Darstellungen die dominierende Rolle. Durch nachträglich eingesetzte Titel versucht der Künstler, Gestalt annehmenden Erinnerungen und Emotionen genauer auf die Spur zu kommen.